Urteilsunfähigkeit infolge psychischer Erkrankung

Kunde X wird von der psychiatrischen Klinik V mittels ärztlichem Attest rückwirkend für die Zeitspanne, während welcher er Verträge mit mehreren Anbietern abschliesst und vergünstigte Mobiltelefone bezieht, infolge einer unmedizierten, psychischen Krankheitsepisode für urteilsunfähig befunden. Herr X bezahlt die Rechnungen für die Abonnements und die Geräteraten nicht. Die bezogenen Mobiltelefone befinden sich nicht mehr im Besitz von Herrn X, infolge der Krankheitsepisode erinnert er sich nicht an den Verbleib der Geräte. Infolge Urteilsunfähigkeit fordert Herr X, dass der mit Anbieter Y abgeschlossene Vertrag für nichtig zu erklären und sämtliche in Rechnung gestellte Kosten des Abonnements sowie des bezogenen Mobiltelefons zu erlassen seien. Anbieter Y besteht auf das korrekte Zustandekommen des Vertrags, weil zum Zeitpunkt des Vertragsschluss keine Beistandschaft bestanden habe. Im Schlichtungsvorschlag zeigte der Ombudsmann auf, dass die Ansicht des Anbieters nicht Lehre und Rechtsprechung entspricht. Die Urteilsfähigkeit kann im Nachhinein geltend gemacht werden, auch wenn bei Vertragsschluss keine Beistandschaft bestand, was die Nichtigkeit des Vertrags bzw. dessen Rückabwicklung zur Folge hat. Da Herr X nicht mehr im Besitz des Mobiltelefons war, war eine Rückabwicklung nicht möglich. Mangels Besitzes des Geräts wurde eine ungerechtfertigte Bereicherung von Herrn X und eine Entschädigung nach Art. 62 OR an Anbieter Y verneint. Die Haftung einer urteilsunfähigen Person gemäss Art. 54 OR wurde infolge der schlechten finanziellen Lage von Herrn X ebenfalls verneint. Der Ombudsmann kam vorliegend somit zum Schluss, dass der Vertrag infolge Urteilsunfähigkeit für nichtig zu erklären sei und alle gegen Herrn X erhobenen Forderungen zu annullieren seien.

SCHLICHTUNGSVORSCHLAG

Am 12. Januar 2021 leitete der Ombudsmann ein Schlichtungsverfahren zwischen den Parteien ein. In diesem Zusammenhang prüfte er die Eingabe der Vertretung des Kunden samt allen dazu übermittelten Dokumenten und forderte beim betroffenen Anbieter eine Stellungnahme ein. Nach Prüfung der Ausführungen der Parteien und der eingereichten Unterlagen unterbreitet der Ombudsmann den vorliegenden Schlichtungsvorschlag.

Der Schlichtungsvorschlag berücksichtigt sowohl die rechtlichen Bestimmungen, einzelne Argumente der Vertretung des Kunden als auch einzelne Argumente des Anbieters. Rechtliche Erörterungen werden - soweit notwendig - ebenfalls miteinbezogen. Im Rahmen dieses Schlichtungsverfahrens werden nur die wesentlichen Punkte des Schlichtungsbegehrens und der Stellungnahme des Anbieters berücksichtigt. Der Ombudsmann kann die Argumente der Parteien nicht wie in einem Gerichtsverfahren überprüfen.

A. AUSFÜHRUNGEN IM SCHLICHTUNGSBEGEHREN

Dem Schlichtungsbegehren von Kunde X, vertreten durch Vertreterin Z der psychiatrischen Klinik V, wird Folgendes entnommen:

„Auch bei diesen Verträgen ist nicht genau ersichtlich wie hoch der geschuldete Betrag ist. Der Betrag von 2878.00 beinhaltet nur die Kosten der beiden Geräte.
Die Abokosten sind nicht ganz klar ersichtlich.

Ziel: Die Verträge, welche nicht rechtsgültig sind, sollen rückwirkend aufgelöst werden. Im Weiteren ist die Löschung allfälliger Betreibungen und Verlustscheine zu veranlassen.“

B. STELLUNGNAHME DES ANBIETERS

Der Stellungnahme von Anbieter Y wird Folgendes entnommen:

„Arztzeugnisse, welche belegen, dass ein Kunde im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses nicht geschäftsfähig gewesen sein soll, sind rechtlich nicht relevant. Relevant ist einzig die Verfügung der Erwachsenenschutzbehörde, welche festlegt, welche Art der Beistandschaft gilt. I.d.R. ist der Vertrag nur bei umfassender Beistandschaft ungültig. Vertreterin Z teilte mit, dass für Kunde X keine Beistandschaft besteht bzw. bestanden hat.


Zu einem Entgegenkommen sind wir deshalb i.d.R. rechtlich nicht verpflichtet. Allerdings, aus Kulanz, werden wir dem Kunden wie folgt entgegenkommen: Die Parteien sind so zu stellen, wie wenn der Kauf der Smartphones nicht stattgefunden hätte (d.h. alles rückgängig machen). Das Gerät muss zurückgegeben werden (gestützt auf Eigentumsrecht). Ist das Gerät nicht mehr vorhanden, muss der Kunde gestützt auf ungerechtfertigte Bereicherung (Art. 62 ff. OR) Anbieter Y Geld rückerstatten. Der Schaden des Anbieters Y ist der Wertverlust des Geräts bzw. der Wert des Geräts bei fehlender Rückgabe (d.h. CHF 2'368.00). Anbieter Y verzichtet allerdings auf die Vertragsgebühren (Abonnementskosten 2 x 24 Monate à CHF 25.00).“

C. EINTRETENSVORAUSSETZUNGEN

Gemäss Art. 12c Abs. 1 des Fernmeldegesetzes (FMG / SR 784.10) und Art. 43 Abs. 1 der Verordnung über Fernmeldedienste (FDV / SR 787.101.1) kann die Schlichtungsstelle für Kommunikation bei zivilrechtlichen Streitigkeiten zwischen Kundinnen oder Kunden und Anbietern von Fernmelde- oder Mehrwertdiensten angerufen werden. Die weiteren Voraussetzungen zur Einleitung des Schlichtungsverfahrens sind in Art. 45 Abs. 2 FDV sowie Art. 8 des Verfahrens- und Gebührenreglements der Schlichtungsstelle für Kommunikation geregelt: 


Das Schlichtungsbegehren muss mit dem dafür vorgesehenen Formular eingereicht werden. Die einreichende Partei muss glaubhaft darlegen, dass sie mit der anderen Partei in der Regel während der letzten 12 Monate eine Lösung gesucht hat. Das Schlichtungsbegehren darf nicht offensichtlich missbräuchlich sein und es darf sich kein Gericht oder Schiedsgericht mit der Sache befassen oder befasst haben.



Die Schlichtungsstelle prüfte die eingereichten Unterlagen und konnte keine offensichtliche Missbräuchlichkeit gemäss Art. 45 Abs. 2 FDV feststellen. 



Vertreterin Z der psychiatrischen Klinik V gelangt für Kunde X mit Schreiben vom 23. November 2020 an Anbieter Y. Kunde X leide an einer psychischen Krankheit und sei ärztlich vom 1. Januar 2020 bis 1. Oktober 2020 als urteilsunfähig eingeschätzt worden. Eine Krankheitsepisode dauere jeweils mehrere Monate. Kunde X verliere den Bezug zur Realität und werde nach einer Gefährdungsmeldung in die psychiatrische Klinik eingewiesen. Nach einer gewissen Behandlungszeit könne Kunde X das Geschehene einordnen und sei dann bestürzt über das, was er angerichtet habe. So sei es auch in diesem Frühling und Sommer gewesen als Kunde X mit Anbieter Y einen Vertrag abgeschlossen habe, obwohl er bereits ein Abonnement und ein Gerät hatte. Kunde X könne sich nicht mehr erinnern, ob er die Geräte verloren oder entsorgt hat. Aufgrund der Handlungsunfähigkeit sei der Vertrag nichtig. 

Anbieter Y antwortet nicht auf das Schreiben von Vertreterin Z.



Kunde X, vertreten durch Vertreterin Z der psychiatrischen Klinik V, hat seinen Versuch zur Einigung mit Anbieter Y somit glaubhaft dargelegt. Da auch die weiteren Voraussetzungen zur Einleitung des Verfahrens erfüllt sind, ist der Ombudsmann zuständig, im Rahmen des Schlichtungsverfahrens zwischen den Parteien zu vermitteln.

D. ÜBERLEGUNGEN DES OMBUDSMANNS

1. Ausgangslage und Problemstellung

Im vorliegenden Schlichtungsverfahren geht es um die Frage, ob Anbieter Y die Kosten des iPhone 11 Pro Max in der Höhe von CHF 1’489.-, Rufnummer 07x xxx xx xx, und des iPhone 11 128 GB in der Höhe von CHF 879.-, Rufnummer 07y yyy yy yy, stornieren sowie den Vertrag „A“ und den Vertrag „B“ ohne Kostenfolgen wegen mangelnder Urteilsfähigkeit von Kunde X aufheben muss.


Der Ombudsmann prüft die Sach- und Rechtslage und stellt den Parteien einen Lösungsvorschlag zu.

2. Zu den Verträgen

Der Stellungnahme von Anbieter Y geht hervor, dass Kunde X am 9. Juli 2020 den Vertrag „B“ der Rufnummer 07x xxx xx xx abgeschlossen und das iPhone Pro Max 256 GB im Wert von CHF 1‘489.- bezogen habe. Weiter führt Anbieter Y den am 28. Oktober 2020 abgeschlossenen Vertrag „A“ der Rufnummer 07y yyy yy yy mit Bezug des iPhone 11 128 GB im Wert von CHF 879.- auf. Da die Rufnummer 07x xxx xx xx sowie das Datum des im Juli 2020 abgeschlossenen Vertrags nicht mit dem von Vertreterin Z eingereichten Vertrag übereinstimmte, wurde Anbieter Y gebeten, die beiden mit Kunde X abgeschlossenen Verträge zur Verfügung zu stellen. Anbieter Y reichte einen am 4. Juli 2020 und einen am 28. Oktober 2020 abgeschlossenen Vertrag ein. Bei beiden sind die Rufnummer 07y yyy yy yy und das iPhone 11 128 GB mit der identischen IMEI-Nummer 1234567890 aufgeführt. Da es sich um den identischen Vertragsinhalt bzw. das identische iPhone handelt, wird vorliegend davon ausgegangen, dass der Vertrag „A“ mit der Rufnummer 07y yyy yy yy und Bezug des iPhone 11 128 GB im Wert von CHF 879.- am 4. Juli 2020 abgeschlossen wurde. Der Bestand des zweiten Vertrags „B“ mit der Rufnummer 07x xxx xx xx und Bezug des iPhone Pro Max 256 GB im Wert von CHF 1‘489.- kann Anbieter Y mangels Zustellung der Vertragskopie nicht nachweisen. Gemäss Art. 8 ZGB (Schweizer Zivilgesetzbuch / SR 210) kann Anbieter Y somit keine Forderungen aus dem nicht nachgewiesenen Vertrag ableiten. Anbieter Y soll somit nicht nur den angeblichen Vertrag „B“ vor Ablauf der Mindestvertragsdauer aufheben sowie die Abonnementsgebühren in der Höhe von CHF 25.- seit dem angeblichen Vertragsschluss am 4. Juli 2020 gutschreiben, sondern auch die Kosten des iPhone Pro Max 256 GB im Wert von CHF 1‘489.- erlassen.

Nachfolgend geht es somit lediglich um den am 4. Juli 2020 abgeschlossenen Vertrag „A“ der Rufnummer 07y yyy yy yy mit Bezug des iPhone 11 128 GB mit der IMEI-Nummer 1234567890 im Wert von CHF 879.-.

3. „A“ der Rufnummer 07y yyy yy yy und iPhone 11 vom 4. Juli 2020

3.1 Allgemeines zur Urteilsunfähigkeit

Die Handlungsfähigkeit ist definiert als Fähigkeit, durch eigene Handlungen Rechte und Pflichten zu begründen. Als handlungsfähig gelten jene Personen, die volljährig und urteilsfähig sind (Art. 13 ZGB). Sind diese Voraussetzungen erfüllt, ist eine Person geschäftsfähig. Die Urteilsfähigkeit ist also von grundlegender Bedeutung bei Vertragsschlüssen. Als urteilsfähig gilt jene Person, die in einer konkreten Lebenssituation vernunftgemäss handeln kann. Das heisst, die Person begreift die Tragweite des eigenen Handelns und ist fähig, sich entsprechend dieser Einsicht zu verhalten. Wer nicht volljährig und/oder urteilsunfähig ist, kann somit keine Rechten und Pflichten begründen, ist somit nicht geschäftsfähig und kann u.a. keine Verträge rechtsverbindlich abschliessen. 



Das Fehlen der Handlungsfähigkeit löst Nichtigkeit eines Rechtsgeschäftes aus, die jederzeit geltend gemacht werden kann. Bei der psychischen Störung ist nicht die Diagnose, dass ein medizinisches Krankheitsbild vorliegt relevant, sondern eine allfällige Auswirkung auf die Fähigkeit zu vernunftgemässem Handeln. Denn es ist auch möglich, dass psychisch Erkrankte dennoch urteilsfähig sind (BGE 117 II 235). Demzufolge muss ein psychiatrisches Gutachten Auskunft darüber geben, ob die betroffene Person trotz der psychischen Störung die Fähigkeit besitzt bzw. besass, vernunftgemäss zu handeln. Bestehen berechtigte Zweifel am Vorliegen der Urteilsfähigkeit, muss diese von Amtes wegen überprüft werden (BGE vom 24. Juni 2013, 5A_280/2013 E. 3.1 mit Verweis auf BGE 104 III 4 E.2 S. 6f. Und BGE 99 III 4 E. 3 S. 6). Eine attestierte fehlende Urteilsfähigkeit hat in der Regel das Fehlen einer Rechtswirkung zur Folge (Art. 18 ZGB). Rechtshandlungen, die in Urteilsunfähigkeit vorgenommen wurden sind unwirksam und somit grundsätzlich nichtig. Die Ungültigkeit kann jederzeit von beiden Vertragsparteien geltend gemacht werden (BGE 117 II 18 E.7). Ist ein Rechtsgeschäft nichtig, so wird der Vertrag rückabgewickelt d.h. beide Parteien geben die bereits erhaltenen Leistungen zurück.

3.2 Urteilsfähigkeit im vorliegenden Fall

Herr X schloss am 4. Juli 2020 mit Anbieter Y und zwei anderen Anbietern Verträge ab und bezog vergünstigte Mobiltelefone. Am 22. Juli 2020 schloss der Kunde X auch noch mit einem vierten Anbieter zwei Verträge ab. Zuvor schloss er am 18. Januar 2020 einen Vertrag mit einem weiteren Anbieter ab. Sämtliche bezogenen Geräte befinden sich nicht mehr im Besitz von Kunde X. Zum Verbleib der Geräte kann Kunde X keine Angaben machen, er erinnert sich nicht mehr.

Den Vertrag mit Anbieter Y schloss der Kunde am 4. Juli 2020 in der Filiale von Anbieter Y im Flughafen Zürich ab. Wie bereits unter Ziffer D.2. Schlichtungsvorschlag erwähnt, handelte sich um einen Vertrag über das Abonnement „A“, Rufnummer 07y yyy yy yy, für 24 Monate mit Bezug eines iPhone 11 128 GB. Diesem Vertrag kann keine Unterschrift des Kunden entnommen werden.


Seit dem 4. September 2020 steht Herr X in psychiatrischer Behandlung in der psychiatrischen Klinik V, welche ihn am 18. November 2020 mit ärztlichem Attest rückwirkend ab dem 1. Januar 2020 bis 1. Oktober 2020 für urteilsunfähig erklärte. Seine Erkrankung sei unmediziert gewesen, was zur Urteilsunfähigkeit geführt habe. Die Vertreterin Z, Sozialarbeiterin der psychiatrischen Klinik V, welche sich um die Angelegenheit von Kunde X kümmert, beschrieb den Zustand mit Brief vom 23. November 2020 an Anbieter Y genauer. Herr X verliere während einer Krankheitsepisode, welche jeweils mehrere Monate dauere, den Bezug zur Realität, welche zur sozialen Verwahrlosung führe. Herr X könne sich nicht selbst in Behandlung geben, da er die Realität verkenne. Erst mit einer Gefährdungsmeldung könne er in die psychiatrische Klinik eingewiesen werden. Infolge der Urteilsunfähigkeit wurde Anbieter Y aufgefordert, die Verträge zu annullieren und sämtliche Kosten zu erlassen. Kunde X schilderte seine Situation in besagtem Schreiben wie folgt: „Die letzte Krankheitsepisode hatte für mich schlimme Folgen. So habe ich mich beispielsweise in kurzer Zeit stark verschuldet. Ich werde nie mehr in der Lage sein, das Geld für die Mobilfunk -Abos und -Geräte bezahlen können. Es gibt auch keine öffentliche Stelle, welche mir hilft diese Schulden zu begleichen. 
Jetzt nach der Behandlung in der Klinik bin ich sehr bestürzt, zu realisieren welche Folgen die Betreibungen für mich haben. Das belastet mich sehr. 
Diese Situation ist für meinen Genesungsprozess sehr hinderlich. Das nimmt mir auch den Mut wieder neu anzufangen. 
Es wurden nach dieser Krankheitsepisode verschiedene Massnahmen verordnet, um mich in Zukunft besser zu schützen. Für mich wäre es jedoch extrem wichtig, wenn ich die Chance erhalte wieder neu und schuldenfrei zu starten.
Ich bitte Sie, mir meine Schulden zu erlassen und entschuldige mich höflich für mein Verhalten, welches vorübergehend ausser Kontrolle geraten ist.“

Anbieter Y erklärte in der Stellungnahme, dass einzig eine umfassende Beistandschaft zur Nichtigkeit des Vertrags führe. Obwohl die Vertreterin Z bereits informierte, dass die Geräte nicht mehr im Besitz von Kunde X seien und der Verbleib unbekannt sei, bot Anbieter Y an, die Gerätekosten in der Höhe von CHF 879.- zu annullieren, sofern das iPhone 11 128 GB retourniert werden könne. Auf die Abonnementskosten in der Höhe von CHF 25.- pro Monat verzichte Anbieter Y aber aus Kulanz.


Der Ombudsmann schliesst sich der Ansicht von Anbieter Y nicht an. Wie in Ziffer D.3.1 erwähnt, kann die Nichtigkeit des Vertrags infolge Urteilsunfähigkeit jederzeit geltend gemacht werden, also auch nachträglich. Bei psychischen Erkrankungen liegt oftmals eine gewisse Zeitspanne zwischen Beginn und Diagnose der Krankheit bzw. Erkennung der aus der Krankheit resultierenden Urteilsunfähigkeit vor. Die während dieser Zeitspanne abgeschlossenen Verträge können nachträglich infolge Urteilsunfähigkeit für nichtig erklärt werden. Eine während des Vertragsschluss bestehende Beistandschaft ist nicht erforderlich resp. aufgrund der oftmals verspätet erkannten Urteilsunfähigkeit infolge der psychischen Erkrankung nicht möglich. Ausserdem dauert die Urteilsunfähigkeit infolge einer psychischen Erkrankungen teilweise nur eine kurze Zeit an, sodass sich die Errichtung einer Beistandschaft nicht anbietet. Wird die nachträglich geltend gemachte Urteilsunfähigkeit von der anderen Vertragspartei bestritten, kann diese anlässlich eines gerichtlichen Beweisverfahrens, u.a. mit Erstellung eines psychiatrischen Gutachtens, überprüft werden. So ging es u.a. in BGE 4P.142/2002 um eine nach dem Vertragsschluss vorgebrachte Urteilsunfähigkeit, welche dann anlässlich des Beweisverfahrens verneint wurde. Das Erfordernis einer während des Vertragsschlusses bestehender Beistandschaft wird nicht erwähnt. Ausserdem wurde in BGE 102 II 226 das Vorgehen des Appellationshofes, den Kaufvertrag nach der Durchführung eines umfangreichen Beweisverfahrens, insbesondere über den geistigen Zustand des Beklagten, infolge Urteilsunfähigkeit nachträglich (auch ohne Vorliegen einer Beistandschaft bei Vertragsschluss) für nichtig zu befinden, nicht bemängelt.

Der Ansicht von Anbieter Y, dass Verträge nur bei bestehender Beistandschaft für nichtig erklärt werden können, kann somit nicht gefolgt werden. Da Anbieter Y offenbar die Urteilsunfähigkeit von Kunde X anzuzweifeln scheint, würde diese anlässlich eines Beweiserhebungsverfahrens und eines psychiatrischen Gutachtens überprüft. Der Schlichtungsstelle steht im Gegensatz zu einem Gerichtsverfahren die Möglichkeit, Beweiserhebungen durchzuführen und Gutachten zu erstellen nicht zu. Der Ombudsmann kann sich für die Beurteilung der Streitigkeit einzig auf die von den Parteien eingereichten Unterlagen und die gemachten Ausführungen stützen: Herrn X wurde mit Attest vom 18. November 2020 rückwirkend per 1. Januar 2020 klar die Urteilsfähigkeit abgesprochen. Ausserdem zeugt Herrn X Verhalten, mit zahlreichen Anbietern (fast zeitgleich) Verträge abzuschliessen und Geräte zu beziehen keinesfalls von einem vernuftsgemässen Handeln eines durchschnittlichen Bürgers, welches für die Handlungsfähigkeit vorausgesetzt wird. Es drängt sich somit der Schluss auf, dass Kunde X beim Vertragsschluss vom 4. Juli 2020 urteilsunfähig war und keine Rechte und Pflichten zu begründen vermochte. Dies hat zur Folge, dass der Vertrag „A“, Rufnummer 07y yyy yy yy, wohl nichtig ist und rückabgewickelt werden sollte. Das heisst, dass Anbieter Y sämtliche Forderungen storniert, welche aus dem Vertrag entstanden und Kunde X das iPhone 11 128 GB zurück gibt. Das Gerät befindet sich nicht mehr im Besitz von Kunde X, der Verbleib ist unklar. Es kann somit nicht zurückgegeben werden. Daher muss nachfolgend überprüft werden, ob Anbieter Y eine Forderung gegenüber Kunde X aus ungerechtfertigter Bereicherung gemäss Art. 62 OR (Obligationenrecht / SR 220) zusteht (Ziffer D.3.3) oder Kunde X für den verursachten Schaden Anbieter Y gegenüber aus Art. 54 OR ersatzpflichtig wird (Ziffer D.3.4).

3.3 Ungerechtfertigte Bereicherung

Es ist fraglich, ob Anbieter Y eine Forderung gegenüber Kunde X aus ungerechtfertigter Bereicherung nach Art. 62 OR zusteht, da der Vertrag nichtig ist, Kunde X aber das iPhone 11 128 GB mangels Besitz nicht zurückgeben kann. Hierfür müsste Kunde X bereichert und Anbieter Y im selben Umfang entreichert und die Bereicherung müsste ungerechtfertigt, d.h. ohne gültigen Rechtsgrund erfolgt sein. Die Bereicherung besteht in einem Vermögensvorteil. Ein Vermögensvorteil kann eine Vergrösserung des Vermögens durch Vergrösserung der Aktiven oder Verminderung der Passiven sein. Damit eine Entreicherung vorliegt, muss der Vermögensvorteil der bereicherten Person aus dem Vermögen des Entreicherten stammen. Ein Vermögensvorteil ist ungerechtfertigt, wenn kein Grund besteht, der den Vermögensvorteil des Bereicherten zu Lasten des Entreicherten rechtfertigt. Der Anspruch aus ungerechtfertigter Bereicherung ist verschuldensunabhängig. 



Kunde X erklärte, das iPhone 11 128 GB nicht mehr zu besitzen. Der Verbleib ist unklar, da er sich aufgrund seiner Krankheitsepisode nicht mehr erinnern könne. Da Kunde X nicht mehr im Besitz des Geräts ist, dürfte auch kein Vermögensvorteil bestehen, welcher die Aktiven vergrössern oder die Passiven vermindern würde. Daher ist Kunde X nicht mehr bereichert. Eine Rückforderung aus ungerechtfertigter Bereicherung dringt daher nicht durch und der Kaufpreis des Geräts aus ungerechtfertigter Bereicherung ist nicht geschuldet. Anbieter Y annulliert somit zusätzlich zu den Abonnementskosten auch die Kosten des iPhone 11 128 GB in der Höhe von CHF 879.- sowie allfällige mit dem Abonnement vom 4. Juli 2020 zusammenhängende Mahn- und Sperrgebühren. Ein Inkassoverfahren gegen Kunde X wurde von Anbieter Y nicht eingeleitet, sodass sich ein Rückzug erübrigt.

3.4 Haftung trotz Urteilsunfähigkeit

Urteilsfähige Personen haften für einen aus unerlaubter Handlung verursachten Schaden gemäss Art. 41 OR. Die Haftung setzt die objektive Seite des Verschuldens (Abweichung vom durchschnittlichen, schädigungsvermeidenen Verhaltens) und die subjektive Seite (Urteilsfähigkeit) voraus. Im vorliegenden Fall besteht das schädigende Verhalten im Abschluss eines Vertrags mit einem vergünstigten Mobiltelefon, ohne die vereinbarten Abonnementsgebühren sowie Geräteraten zu bezahlen. Ausserdem gab Kunde X das Mobiltelefon weiter. Wann und an wen ist unklar, er vermag sich aufgrund seines Krankheitszustands nicht erinnern. Da vorliegend – wie bereits erwähnt – von der Urteilsunfähigkeit von Kunde X zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses ausgegangen wird, fehlt die subjektive Seite des Verschuldens, weshalb Art. 41 OR nicht zur Anwendung kommt. Für urteilsunfähige Personen sieht Art. 54 OR die Möglichkeit vor, diese trotz Fehlens der subjektiven Seite des Verschuldens zu einer Ersatzpflicht anzuhalten (Claire Huguenin, Obligationenrecht – Allgemeiner und Besonderer Teil, §24 Unerlaubte Handlung, S. 604 ff., 3. Auflage, 2019; Willi Fischer in: Haftpflichtkommentar, Hrsg. Willi Fischer und Thierry Luterbacher, S. 314 ff., 2016).

Art. 54 OR sieht Folgendes vor:

Absatz 1: Aus Billigkeit kann der Richter auch eine nicht urteilsfähige Person, die Schaden verursacht hat, zu teilweisem oder vollständigem Ersatz verurteilen.

Absatz 2: Hat jemand vorübergehend die Urteilsfähigkeit verloren und in diesem Zustand Schaden angerichtet, so ist er hierfür ersatzpflichtig, wenn er nicht nachweist, dass dieser Zustand ohne sein Verschulden eingetreten ist.

Es wird die dauerhafte sowie unverschuldete vorübergehende Urteilsunfähigkeit in Absatz 1 von der vorübergehenden, aber verschuldeten Urteilsunfähigkeit in Absatz 2 unterschieden. Bei der vorübergehenden verschuldeten Urteilsunfähigkeit werden in der Lehre und Rechtsprechung vor allem Beeinträchtigungen nach übermässigem Konsum von Alkohol oder Drogen genannt (Claire Huguenin, Obligationenrecht – Allgemeiner und Besonderer Teil, §24 Unerlaubte Handlung, S. 604 ff., 3. Auflage, 2019; Willi Fischer in: Haftpflichtkommentar, Hrsg. Willi Fischer und Thierry Luterbacher, S. 314 ff., 2016). Dies trifft im Fall von Kunde X nicht zu, weshalb Art. 54 Abs. 1 OR zur Anwendung gelangt. Dem Richter steht demnach ein Billigkeitsentscheid zu, bei welchem die konkreten Umstände des Einzelfalls berücksichtigt werden. Dabei spielen die finanziellen Verhältnisse der schädigenden und der geschädigten Person eine Rolle. Eine bescheidene finanzielle Situation der schädigenden Person und eine finanziell gut situierte geschädigte Person sprechen gegen eine Billigkeitshaftung (BGE 102 II 226; BGE 122 III 262 E. 2a.aa, S. 266 f.).

Wie bereits erwähnt, stellt die Schlichtungsstelle kein Gericht dar und kann daher keine Beweise zur finanziellen Lage der Parteien erheben. Sie kann sich hierfür erneut lediglich auf die eingereichten Unterlagen und die von den Parteien gemachten Ausführungen stützten. Den Ausführungen von Vertreterin Z geht klar hervor, dass die finanzielle Situation von Kunde X keine Übernahme von Kündigungsgebühren oder Gerätekosten ermöglicht. Er dürfte somit – im Gegensatz zu Anbieter Y – in bescheidenen finanziellen Verhältnissen leben. Der Ombudsmann sieht daher von einer Ersatzpflicht gemäss Art. 54 Abs. 1 OR ab.

Diesen Vorschlag erachtet der Ombudsmann unter den gegebenen Umständen für sachgerecht.

Sollte die Umsetzung dieses Schlichtungsvorschlags bereits vor der beidseitigen Unterzeichnung ganz oder teilweise erfolgt sein, so gilt die Vereinbarung in diesem Punkt als erfüllt. Diesbezügliche Rechte und Pflichten fallen dahin.

E. SCHLICHTUNGSVORSCHLAG

  1. Anbieter Y hebt den Vertrag „A“ von Kunde X, Rufnummer 07y yyy yy yy, rückwirkend per Vertragsschluss ohne Kostenfolgen auf und annulliert innert 20 Tagen nach Erhalt der Bestätigung über den erfolgreichen Abschluss des Schlichtungsverfahrens sämtliche seit Vertragsschluss in Rechnung gestellten Abonnements-, Mahn- und Sperrgebühren sowie die Kosten des iPhone 11 128 GB in der Höhe von CHF 879.-.
  2. Anbieter Y hebt den angeblichen Vertrag „B“ von Herrn Kunde X, Rufnummer 07x xxx xx xx, rückwirkend per Datum des angeblichen Vertragsschlusses ohne Kostenfolgen auf und annulliert innert 20 Tagen nach Erhalt der Bestätigung über den erfolgreichen Abschluss des Schlichtungsverfahrens sämtliche in Rechnung gestellten Abonnements-, Mahn- und Sperrgebühren sowie die Kosten des iPhone 11 Pro Max im Wert von CHF 1‘489.-.
  3. Anbieter Y zieht ein allfälliges gegen Herrn Kunde X eingeleitetes Inkassoverfahren oder Betreibungsverfahren innert 20 Tagen nach Erhalt der Bestätigung über den erfolgreichen Abschluss des Schlichtungsverfahrens auf eigene Kosten zurück und lässt den damit zusammenhängenden Bonitätsdatenbank- oder Betreibungsregistereintrag löschen.
  4. Nach Erfüllung von Ziffern E.1 bis E.3 des Schlichtungsvorschlags erklären sich die Parteien per saldo aller Ansprüche auseinandergesetzt.
  5. Dieser Schlichtungsvorschlag wird von beiden Parteien freiwillig und ohne Schuldeingeständnis angenommen.

Bern, 2. Februar 2021

Dr. Oliver Sidler
Ombudsmann

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